Der Zauber des Übergangs

Wenn Sommer und Herbst einander begegnen, entsteht ein Schweben zwischen Vertrautem und Neuem. Übergänge sind keine Brüche, sondern Brücken – Momente des Dazwischen, die uns erinnern: Alles ist im Fluss, alles verwandelt sich.

Ein Zauber des Übergangs

Ein Essay über Schwellenzeiten in Natur, Kultur und Leben

von Claudia von Arx

Übergangsstimmung

Wenn der August sich neigt, beginnt eine andere Zeit. Die Tage sind noch warm, doch die Abende kühlen ab, die Schatten werden länger, die Luft klarer. Sommer und Herbst begegnen sich – nicht als Gegensatz, sondern als Schweben zwischen beiden.

Übergänge haben ihre eigene Stimmung. Sie lassen uns spüren, dass nichts bleibt, wie es ist. Das Vertraute verabschiedet sich, das Neue hat noch keine feste Gestalt. Gerade dieses Schweben kann uns verunsichern – und zugleich verzaubern.

Warum üben Übergänge eine solche Faszination auf uns aus? Vielleicht, weil sie uns an den Rhythmus des Lebens erinnern: Alles ist im Fluss, alles verwandelt sich.

Naturbilder des Dazwischen

Die Natur kennt Übergänge in unendlicher Vielfalt. Der Tag erwacht nicht abrupt, er tastet sich im Morgenrot hervor. Die Nacht kommt nicht plötzlich, sie färbt den Himmel, bis die Dunkelheit sich senkt.

Auch die Jahreszeiten wechseln nicht in einem Schlag. Spätsommer wird Herbst, Blätter beginnen sich zu färben, Felder reifen, während noch Blumen blühen. Der Übergang ist kein Schnitt, sondern ein Gleiten.

So ist es auch mit den Gezeiten, die sich von Ebbe zu Flut bewegen, oder mit den Phasen des Mondes. Alles lebt in Schwellen, in Zwischenräumen, in Bewegungen, die weder ganz das eine noch schon das andere sind.

In diesen Räumen spüren wir: Das Leben liebt das Dazwischen.

Mythen der Schwelle

Auch die Mythen haben die Macht der Übergänge erkannt.

Die Römer verehrten den Gott Janus. Er hatte zwei Gesichter: eines, das zurückschaute, und eines, das nach vorne blickte. Janus war der Hüter der Türen, der Tore, der Übergänge. Kein Anfang, kein Ende geschah ohne ihn. Übergang war nicht Randgeschehen, sondern ein heiliger Moment.

Die Griechen erzählten von Persephone. Sie verbringt einen Teil des Jahres in der Unterwelt und kehrt dann zur Erde zurück. Ihr Übergang ist der Taktgeber der Jahreszeiten: Wenn sie hinabsteigt, kommt der Winter; wenn sie zurückkehrt, erwacht das Leben. Übergang ist hier Verwandlung, nicht Verlust.

Auch Initiationsriten in vielen Kulturen sind Übergänge. Vom Kind zum Erwachsenen, vom Laien zum Priester, vom Lebenden zum Ahnen – überall markiert das Ritual die Schwelle, die den Wandel heiligt. Der Übergang ist mehr als ein Übergang, er ist ein Tor zur Transformation.

So zeigt sich: Schwellenzeiten sind heilig. Sie tragen eine Kraft, die jenseits von Anfang und Ende liegt.

Stimmen der Poesie

Die Dichtung hat Übergänge immer wieder besungen.

Hermann Hesse schrieb in seinem Gedicht Stufen:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Hesse wusste: Übergänge sind nicht nur Abschiede, sie sind auch Anfänge. Sie tragen die Ambivalenz von Verlust und Aufbruch in sich.

Rilke sprach in seinen Herbstgedichten von der Melancholie des Vergehens – und zugleich von der Schönheit, die darin liegt. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben …“ Hier klingt die Schwere des Übergangs, aber auch seine Wahrheit.

Hölderlin schrieb: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Auch das ist Sprache der Schwelle: Im Unsicheren liegt die Möglichkeit, Neues zu erfahren.

Literatur deutet Übergänge oft als Orte der Ambivalenz – schmerzhaft und fruchtbar zugleich.

Philosophische Spiegelungen

Die Wissenschaft vom Menschen hat Übergänge genau betrachtet. Arnold van Gennep prägte den Begriff Rites de passage. Er beschrieb, dass jede Kultur Übergänge mit Ritualen markiert: Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod.

Sein Schüler Victor Turner sprach von Liminalität – dem „Schwellenzustand“. Es ist ein Raum, in dem alte Ordnungen aufgehoben sind, während neue noch nicht gelten. Diese Phase ist instabil, aber gerade darin liegt ihre kreative Kraft.

Philosophisch betrachtet ist der Übergang ein „Noch-nicht“ und „Nicht-mehr“. Er ist kein fester Ort, sondern ein Prozess. Er fordert uns heraus, Unsicherheit auszuhalten, ohne sofort ins Neue zu fliehen.

Übergang ist eine Einladung: das Dazwischen nicht als Mangel, sondern als Möglichkeit zu erleben.

Übergänge in unserer Zeit

In unserer modernen Welt lieben wir Klarheit. Übergänge sind uns unbequem. Jobwechsel sollen nahtlos sein, Lebensphasen reibungslos ineinander übergehen. Wir übersehen das Dazwischen, eilen vom Alten ins Neue – und verlieren den Zauber der Schwelle.

Doch Übergänge brauchen Raum. Ein Abschied darf gefeiert werden, ein Neubeginn gewürdigt. Ein Lebensübergang ist nicht nur ein logistischer Schritt, sondern eine innere Wandlung.

Vielleicht ist es genau das, was uns fehlt: Orte, an denen wir Übergänge bewusst begehen. Momente, in denen wir uns Zeit nehmen, zu verweilen – bevor wir weitergehen.

Der Zauber des Übergangs

Übergänge sind keine Brüche, sie sind Brücken. Sie verbinden, was war, mit dem, was kommt. Sie tragen die Kraft der Wandlung in sich – schmerzhaft und heilsam zugleich.

Vielleicht liegt ihr Zauber darin, dass sie uns für einen Augenblick an der Schwelle des Lebens selbst verweilen lassen. Dass wir das Schweben spüren zwischen Vertrautem und Unbekanntem.

Der Übergang ist nicht Leere.

Er ist der Atem, in dem das Neue geboren wird.

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