Vom Loslassen – Vergänglichkeit als Lehrmeisterin
Ein Essay über Herbst, Mythos und die Weisheit des Vergehens
von Claudia von Arx
Der Herbst als Bild des Loslassens
Wenn der Herbst kommt, verändert sich die Welt in einer besonderen Weise. Die Bäume, die im Sommer noch voller Blätter waren, beginnen loszulassen. Die Felder sind abgeerntet, die Früchte gesammelt, die Tage werden kürzer, die Luft klarer. In dieser Zeit liegt eine Schönheit, die aus der Vergänglichkeit selbst spricht – und eine leise Melancholie. Etwas geht zu Ende, und im Ende liegt Ruhe. Die Natur kämpft nicht gegen ihr Vergehen. Sie hält nicht fest. Sie lässt fallen. Loslassen ist kein Mangel, sondern Teil des grossen Rhythmus, der das Leben trägt.
Naturbilder des Vergehens
Die Natur zeigt, wie Loslassen geschieht:
Ein Baum lässt seine Blätter fallen – nicht aus Schwäche, sondern aus Weisheit. Das Laub würde ihn im Winter nur belasten. Erst das Loslassen bewahrt seine Kraft. Auch die Felder folgen diesem Rhythmus. Die Ernte ist eingebracht, die Halme geschnitten, die Erde atmet aus. Im Vergehen reifen Samen, die im Frühjahr neues Leben tragen.
Und die Tiere lauschen der stillen Verabredung mit der Kälte. Igel rollen sich in ihr Nest, Eichhörnchen vergraben Nüsse im feuchten Boden, Bären ziehen sich in die Dunkelheit ihrer Höhlen zurück. Kein Widerstand, kein Zögern – nur das tiefe Wissen um das Mass der Zeit.
Alles in der Natur weiss: Leben braucht Pausen. Bewegung und Ruhe sind kein Gegensatz, sondern Atem eines grossen Ganzen. Das Loslassen ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Kreislaufs. Im Fallen liegt auch ein Sammeln. Blätter werden zu Humus, Erde zu Nahrung, Vergänglichkeit zu Fruchtbarkeit. Das Leben trägt seine eigene Weisheit im Vergehen.
Mythen vom Übergang
Seit jeher spiegelt sich das Loslassen in Mythen und Ritualen:
Die Kelten feierten Samhain, das Fest der Toten. Es markierte das Ende des Sommers und den Beginn der dunklen Zeit. Man ehrte die Ahnen, entzündete Feuer, liess Altes gehen, um das Neue zu begrüssen. Dieser Rhythmus lebt im christlichen Allerseelen fort.
Die Griechen erzählten vom Fluss Styx, über den die Seelen in die Unterwelt gelangen. Der Fluss ist Grenze und Übergang zugleich – ein Bild dafür, dass Loslassen nicht Vernichtung ist, sondern Wandlung.
Auch die Ägypter kannten dieses Wissen. Im Totengericht wurde das Herz des Verstorbenen gegen die Feder der Wahrheit gewogen. Nur wer frei von unnötiger Schwere war, durfte weitergehen.
In allen Bildern liegt dieselbe Botschaft: Loslassen ist Bedingung für Wandlung. Wer festhält, bleibt stehen. Wer abgibt, öffnet die Hand für das Kommende.
Stimmen der Poesie
Dichterinnen und Dichter haben den Herbst seit Jahrhunderten als Spiegel des Loslassens beschrieben:
Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“ klingt wie eine stille Hymne an das Vergängliche:
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“
Diese Verse tragen Melancholie und Klarheit zugleich. Rilke zeigt: Der Herbst ist Wahrheit, die nicht beschönigt.
Georg Trakl malte das Vergehen in dunklen Farben – „verfallende Gärten, schwarze Äste“ –, und doch leuchtet in seinen Bildern eine eigentümliche Schönheit des Zerfalls.
Eichendorff sah in der Vergänglichkeit eine romantische Wehmut. Nebel, Abendlicht, das Verklingen des Sommers – sie erzählen von Abschied, der nicht zerstört, sondern verwandelt.
Die Poesie erinnert: Loslassen ist nicht nur Schmerz. Es ist auch Schönheit, die sich aus der Tiefe zeigt.
Philosophische Spiegelungen
Auch die Philosophie erkennt in der Vergänglichkeit den Kern des Lebens:
Martin Heidegger nannte den Menschen ein „Sein zum Tode“. Erst die Endlichkeit verleiht dem Leben Intensität. Ohne Begrenzung verlöre jeder Augenblick seine Tiefe.
Im Buddhismus gilt Vergänglichkeit – Anicca – als Grundwahrheit: Nichts bleibt, alles fliesst. Leiden entsteht dort, wo wir festhalten wollen. Frieden wächst, wo wir loslassen.
Die Stoiker sahen darin eine Form von Freiheit. Memento mori – erinnere dich an die Endlichkeit – war kein düsterer Gedanke, sondern eine Einladung, das Leben bewusster zu würdigen.
Vergänglichkeit ist keine Feindin. Sie ist Lehrmeisterin. Sie lehrt, dass Leben Tiefe gewinnt, wo wir abgeben können.
Vergänglichkeit in unserer Zeit
In der Gegenwart hat die Vergänglichkeit ihren Platz verloren. Jugend wird verherrlicht, Alter verdrängt. Abschiede sollen rasch überwunden werden, Trauer bleibt unsichtbar. Wir halten fest – an Dingen, an Rollen, an Vorstellungen. Wir verwechseln Dauer mit Sicherheit. Doch Festhalten nimmt dem Leben den Atem. Wer nicht loslässt, verpasst die Erfahrung der Erneuerung. Es braucht wieder Gesten, die das Vergehen würdigen: einen Brief, einen Gang durch den Herbstwald, ein Licht für das, was wir verabschieden. Solche Rituale geben der Vergänglichkeit Raum – und verwandeln sie in Weisheit.
Das Geschenk des Loslassens
Der Herbst zeigt, wie Loslassen gelingt: leise, selbstverständlich, ohne Widerstand. Die Bäume weinen nicht um ihre Blätter, sie lassen sie fallen. Die Tiere folgen dem inneren Ruf nach Ruhe, ziehen sich zurück in den Schutz der Stille. Auch in uns darf Winter sein – Zeiten des Rückzugs, in denen das Leben sammelt, was wachsen will. Loslassen macht nicht ärmer, sondern freier. Es leert die Hände, damit Neues Platz findet. Vergänglichkeit ist Lehrmeisterin. Sie zeigt, dass Leben nicht in Dauer, sondern in Tiefe liegt.
Loslassen heisst: den Rhythmus des Lebens annehmen –
nicht verlieren, sondern frei werden.